Sucht im Alter

23.06.2015 14:10
avatar  Friedel
#1
avatar

Alkoholismus im Alter
Die Dame und der Suff

Von Ansgar Siemens, München

Sie verreist gern, mag Kunst, geht ins Theater - und trinkt seit Jahrzehnten. Mit 74 Jahren will eine Psychologin im Ruhestand endlich ihren Alkoholkonsum drosseln. Es ist ein täglicher Kampf.

Wer Erika* über die Straße eilen sieht, eine schlanke Frau mit einem schnellen Schritt, der ahnt nichts von ihrem Geheimnis. Die 74-Jährige trägt einen dunklen Hut auf den roten Haaren, eine lange dunkle Jacke, dazu Hose und Pullover in einem dominanten Lila. Eine Primaballerina, die den Schirm vergessen hat und bei dem Regen heute in München möglichst rasch ins Trockene will.

Wie fast jeden Donnerstag am frühen Abend läuft sie zu einer unscheinbaren Adresse in der Nähe des Hauptbahnhofs, zu einem Raum, der an eine Fahrschule erinnert. Sie nennen sich nur beim Vornamen hier, die sieben Teilnehmer der Selbsthilfegruppe "Club 29".

Was sie eint, ist ihr Problem, von dem sie draußen nichts erzählen: der Alkohol. Sie alle sehnen sich nach Kontrolle über ihren Konsum, und jeder hat seine eigene Vorstellung davon, was das heißt. Als Erika an der Reihe ist, sagt sie: "Ich hatte in 14 Tagen drei Mal ein Glas Wein und zwei Mal ein kleines Bier." Die anderen nicken. Gut gemacht.

Die stille Sucht im Alter

Bis November 2014 trank Erika zwei Flaschen Wein pro Tag, manchmal auch mehr. Sie zählt zu den etwa 400.000 Alkoholikern in Deutschland, die älter sind als 60 Jahre. Es ist absehbar, dass die Zahl in den nächsten Jahren deutlich steigen wird. Zum einen gibt es immer mehr ältere Menschen. Zum anderen stammen die neuen Senioren aus der Generation der Babyboomer - und die sind seit je größere Alkoholmengen gewohnt.

Experten wissen über das Ausmaß von Alkoholismus im Alter relativ wenig. "Es ist oft eine stille Sucht", sagt Peter Raiser, Projektmanager Suchtprävention bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen in Hamm. Wenn ein 37-Jähriger zu viel trinkt, fällt das seinem Chef auf, seiner Frau, seinen Freunden. Wenn eine Rentnerin trinkt, die allein wohnt, merkt das zunächst einmal niemand. Viele ältere Menschen greifen zur Flasche, weil sie einsam sind. Weil ihr Partner stirbt. Weil sie sich langweilen.

Erika lebt seit dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren auf 50 Quadratmetern im gediegenen Stadtteil Nymphenburg. Dem Verführer Alkohol erlag die Diplom-Psychologin bereits in den Siebzigerjahren, obwohl er in ihrem Elternhaus fast verpönt war. Damals arbeitete sie in der Marktforschung. Ihr Mann arbeitete in einer amerikanischen Firma und trank regelmäßig mit Geschäftspartnern.

"Alkohol war eine Selbstverständlichkeit, das gehörte damals einfach dazu", sagt sie. Abends machte sich das kinderlose Ehepaar im Schnitt drei Mal in der Woche eine Flasche Whiskey auf - und trank sie gemeinsam leer. Dazu kamen Bier und Wein zum Essen, vor dem Fernseher, täglich.

Bei Treffen mit Freunden wurde "fürchterlich gesoffen". Einmal besuchte Erika das Oktoberfest, nach acht Stunden hatte sie acht Maß getrunken. Acht Liter Bier. Aber auch wenn sie damals schon zierlich war - ausgemacht, sagt sie, habe ihr der Alkohol nichts. Es liege wohl an den Genen. "Einen Kater bekam ich vielleicht drei, vier Mal in zehn Jahren."

Irgendwann Ende der Achtzigerjahre hörten die Exzesse mit Freunden auf. Das Ehepaar trank weniger, Alkohol war nicht mehr ganz so wichtig im Alltag. Das änderte sich wieder im Jahr 2002, als Erika in Rente ging. Sie war tagsüber allein mit ihrem Mann, die erste Flasche Wein entkorkte sie am späten Vormittag. Am Ende des Tages hatte sie fast immer 1,5 Liter intus. Fusel für zwei Euro die Flasche, "man trinkt ja nicht zum Genuss, auch wenn man das erzählt".

Ein Pegel bringt Entspannung

Erika trank fast ausschließlich zu Hause, sie lallte nicht, sie torkelte nicht, die Leberwerte zeigten keine besonderen Ausschläge. "Es war sicher ein Pegel, der erreicht werden musste, und fertig." Und sie habe auch "ein bisschen Abstand gesucht, Entspannung". Eine Sinnkrise? Habe es nicht gegeben.

Mit dem Etikett Alkoholikerin hadert sie. Lange schon sei ihr klar gewesen, dass sie abhängig sei. Aber Alkoholikerin? "Ich habe mich nie so bezeichnet, geschweige denn gefühlt, weil das mit Gosse verbunden ist und mit dem absoluten Abstieg." Außerdem habe sie nie ihren Konsum gesteigert. Das sei doch untypisch. Über Alkoholiker habe sie gedacht: "Diese armen Menschen."

Erika geht ins Theater, besucht Ausstellungen, sie reist viel seit dem Tod ihres Mannes. Alle zwei Monate bricht sie für sieben bis zehn Tage auf, nach Litauen, Jordanien, Schweden. Irgendwann begann sie zu stören, dass sie vor Reisebeginn daran dachte, wie sie den Alkohol mitbekommt.

Eine halbe Flasche Wodka steckte sie zur Sicherheit ein, auf dem Flug bestellte sie Wein. Finanziell sei sie unabhängig, sagt Erika. Aber der Alkohol, so empfindet sie das, schränkte sie ein in ihrer Freiheit. Sie wollte etwas ändern, das nahm sie sich vor im Sommer 2014.

Ganz aufhören kommt nicht in Frage. Sie will weiter trinken, wegen der "Lebensqualität", das Glas Rotwein in Gesellschaft. Sie meldete sich beim Münchner Institut für Therapieforschung, begann eine Therapie im Rahmen des Forschungsprojekts Elderly. Sie ersetzte die tägliche Dosis mit alkoholfreiem Sekt. Sie kämpft. "Ich habe Bedenken, dass ich ein Glas Wein trinke und dann nicht aufhören kann."

Ende Mai sitzt Erika auf einem Volksfest in der Münchner City. Sie lässt alkoholfreies Bier ins Glas laufen. "Es schmeckt mir", sagt sie und strahlt. Ein paar Tage später berichtet sie von einem Sonntagsbrunch mit Freunden. Einen Liter Wein habe sie getrunken. Das sei schon mal okay.

Der Kampf gegen die Sucht, er beginnt jeden Tag von vorn.

*Name geändert


 Antworten

 Beitrag melden
23.06.2015 20:00
avatar  Texi
#2
avatar

Ab wann ist man alt?
Ab wann ist man Senior(in)?

Es gab Zeiten in meinem Leben, da wäre ich froh gewesen über einen so kleinen Alkoholkonsum wie bei Charlotte. Ist eine totale Abstinenz in diesem Alter noch erstrebenswert? Wir wissen ja wie mühsam es sein kann. Lohnt sich das noch?
Ich habe ja den Vortrag der beiden Ärzte nicht gehört, wie war deren Meinung dazu?

LG Texi


 Antworten

 Beitrag melden
23.06.2015 22:00
avatar  Karin
#3
avatar

Einerseits Bedenken, nicht wieder aufhören zu können...
Anderseits ist ein Liter Wein dann wieder okay?

Ich würde mich immer wieder für die totale Abstinenz entscheiden! Für mich ist das keine Frage des Alters sondern der inneren Einstellung.
Meine Lebensqualität ist kein bissel eingeschränkt. Im Gegenteil...Seit ich nicht mehr trinke, hat mein Leben wieder Qualität.
Aber im Alter kommen die Zipperlein. Da gehorchen evtl die Beine nicht mehr so, es müssen mehr Medikamente genommen werden.
Ich könnte mir vorstellen, dass es unter Alkohol noch schneller zu Unfällen kommen kann. Die Einsamkeit wird nur ganz kurz verschwinden. Das wissen wir alle zu gut.

Karin


 Antworten

 Beitrag melden
24.06.2015 07:52 (zuletzt bearbeitet: 24.06.2015 11:31)
avatar  Theodor
#4
avatar

Ich habe mir da auch schon oft Gedanken gemacht Texi/Karin, ...ist doch egal wenn du alt bist! oder bei Krankheit? oft hab ich das bei anderen gesehen und mir gedacht „na da würde ich mir nur noch die Kante geben!“ oder als ich damals meinen Schlaganfall hatte, jetzt ist alles egal! und ich hatte dann, nachdem ich die Schock Station verlassen hatte sofort wieder losgelegt, `Rauchen und Trinken!` Eine die ich kenne (um die 70) erzähle mir das sie jetzt hin und wieder abends etwas trinkt. „ist doch in Ordnung, Du kennst dich doch nu wirklich ganz genau, und wenn Du damit klar kommst ist das doch OK!“

Jetzt, mit dem bisschen Abstand zur Sucht, sage ich mir heute: „Ne! ich habe doch nun wirklich für 2 oder 3 Menschenleben gesoffen, alles was jetzt kommt will ich miterleben. Ich habe genug davon nur zu verdrängen oder wegzulaufen! Egal was kommt, gebrechen oder auch eine Schlimme Krankheit, (halt! eine schlimme Krankheit habe ich doch, sogar eine Tödliche) ich Trinke nicht! Das alter kann doch auch etwas unheimlich schönes und befreiendes sein, ich muss niemandem mehr gefallen brauche im Schwimmbad keinen Bauch mehr einzuziehen und und und. Vielleicht ist das jetzt mit 52 noch ein bisschen zu enthusiastisch, aber ich hoffe es bleibt!

Theodor


 Antworten

 Beitrag melden
24.06.2015 11:40
avatar  ( Gast )
#5
Gast
( Gast )

Theodor, du bist wirklich enthustiastisch.Karin ist nicht wirklich alt, ich auch nicht aber Schmerzen und Einsamkeit sind schwer zu ertragen. Für mich gibt es auch nur ein Leben ohne Alkohol und ich vermisse überhaupt nichts. Dieser Zustand einer zufriedenen Abstinenz muss aber erst einmal erreicht werden. Wenn ich mir vorstelle ich wäre 80 Jahre alt, allein und krank wo soll da noch die Motivation herkommen meinen Melissengeist nicht mehr zu trinken. Alter kann schon ein großes Übel sein.

Dazu möchte ich noch eine Geschichte erzählen. Ich lebte ja 1 Jahr in einem Pflegeheim und dort war ein älterer Mann, ca. 75. Früher Alkoholiker, erst im Alter trocken geworden, zwangsweise und lebte dort im betreuten Wohnen. Jeden Morgen drehte er seine Runde durch die Stationen, schaute was los war und meistens hatte er eine Patientin im Rollstuhl dabei. Zuerst dachte ich es wäre seine Tochter aber er kümmerte sich um sie, weil sie keine Angehörigen mehr hatte. Mit der Zeit lernten wir uns besser kennen, führten gute Gespräche miteinander. Dazu muss ich sagen, die Leute mit denen du 'normal' reden konntest waren eine kleine Minderheit. Für mich wirkte er zufrieden. Auf einmal kam er nicht mehr und es hieß er ist krank. Bei einer Rundfahrt im Park sah ich ihn dann auf einer Bank sitzen, unrasiert, ich erkannte ihn fast nicht. Er sagte zu mir "ich bin auf dem Weg in die ewigen Jagdgründe, dort trinke ich wieder meinen Whisky". Manchmal war er schon ein bisschen seltsam, drei Tage später war er tot. Ich forschte nach der Ursache, direkt erfuhr man vom Heimpersonal nichts.
Ein Pfleger erzählte mir dann, der ...... hat nichts mehr gegessen und getrunken, er wollte einfach nicht mehr. Ich sah wie seine Töchter seine Habseligkeiten abholten, weinend. Zu Besuch war nie eine. Das ist Alter, bzw. kann Alter sein.

LG Texi


 Antworten

 Beitrag melden
24.07.2015 09:20
avatar  Theodor
#6
avatar

...ich habe da eben einen interessanten Beitrag gelesen bzw. Gehört.
Es lohnt sich (ist schon ziemlich lange) sich die Zeit zu nehmen es sich durchzulesen/anzuhören den genau so stelle ich es mir vor!

deutschlandradiokultur

Theodor


 Antworten

 Beitrag melden
13.05.2017 06:37
avatar  Theodor
#7
avatar

AXA Pflegewelt bewegt: Süchte im Alter




Sucht und Süchte im Alter - die kleinen Süchte im Alltag. Die Definition von Sucht ist schwierig. Wann beginnt überhaupt eine Sucht?

Die häufigsten Süchte sind: Alkoholsucht, die Sucht nach Zigaretten und Nikotin und Tablettensucht. Meist besteht eine Abhängigkeit nach Benzodiazepinen wie Beruhigungs- und Schlafmitteln sowie anderen Entspannungsmedikamenten gegen geistige und seelische Unruhe.

Was ist schon einzuwenden gegen ein Gläschen Wein oder Bier am Abend für den Genuss, oder die Schlaftablette für eine ruhigere Nacht. Aber was, wenn Alkohol wie Bier, Wein oder die Einschlafhilfe zur Gewohnheit wird, zur Sucht wird und zur Abhängigkeit führt?

Ab wann spricht man von echtem Suchtverhalten also Alkoholismus, Missbrauch von Tabletten, Drogenmissbrauch?

Wichtigste Frage: Was kann man gegen eine stoffgebundene Abhängigkeit tun? Unser Experte von der DHS (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.) beantwortet die wichtigsten Fragen.

Schwerpunkt der Sendung „AXA Pflegewelt bewegt: Süchte im Alter''. Häufigste Suchterkrankungen älterer Menschen: Abhängigkeit in Bezug auf Tabletten und Alkohol.

Die AXA Pflegewelt besucht eine Suchtklinik in Bad Fredeburg, welche sich u.a. auf die Suchttherapie von Senioren spezialisiert hat.

AXA Pflegewelt:
http://www.axa-pflegewelt.de/pb/site/...

AXA Pflegewelt auf Facebook:
https://www.facebook.com/AXA.Pflegewelt
Kategorie
Menschen & Blogs
Lizenz
Standard-YouTube-Lizenz

Theodor


 Antworten

 Beitrag melden
Bereits Mitglied?
Jetzt anmelden!
Mitglied werden?
Jetzt registrieren!