MEDIKAMENTE Die stille Sucht

16.09.2020 06:11
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MEDIKAMENTE Die stille Sucht
von Horst Güntheroth
aus Der Stern Online




Sie verlieren ihre Lebenslust und ihre Freunde, ihr Leiden bleibt oft unerkannt: Fast zwei Millionen Deutsche - überwiegend Frauen - sind von Medikamenten abhängig. Eine alarmierende Zahl. Aber es gibt Heilungschancen.
Es ging ihr schlecht. Ein Gefühl innerer Unruhe hatte sie gepackt, sie fühlte sich leer und einsam. Noch schlimmer als die Tage waren die Nächte. Stundenlang lag Franziska Bremer* wach im Bett, quälende Gedanken raubten ihr die Ruhe. Seit Wochen ging das so. "Da gab mir eine Freundin eine Schlaftablette", sagt die 37-jährige Berlinerin. "Das tat gut, ich schlummerte ein, meine Stimmung wurde besser." Am nächsten Abend nahm sie zwei der weißen Pillen. "Es war prima. Ich entspannte mich, die grauen Wolken waren wie weggeblasen, die Welt war wieder in Ordnung."
Wegen des "guten Gefühls" warf die Single-Frau nach ein paar Tagen schon mal nachmittags einen Glücksbringer ein. Im Job in der Bank funktionierte sie zunächst besser denn je. Als die Packung der Freundin leer war, ging sie zum Neurologen und ließ sich Neues verordnen. Nach zwei Monaten schluckte sie vier Pillen täglich. "Wie in Watte" erlebte sie die Welt.
Längst konnte die Verführte nicht mehr ohne. Und bald schon reichten die Verschreibungen des Neurologen nicht mehr, um die üblen Gefühle in Schach zu halten. Da holte sie sich auch vom Hausarzt die Seelentröster. Auf "sieben bis acht Tabletten" stieg ihre Tagesdosis nach einem Jahr. In der Bank döste Franziska Bremer nun mehr, als dass sie arbeitete. Von ihren Freunden hatte sie sich längst zurückgezogen. Die wenigen Übriggebliebenen bat sie, ihr ebenfalls die Pillen auf Rezept zu besorgen. Die zögerten zwar, machten aber mit. Ihre früheren Probleme waren einem neuen gewichen. "Wo kriege ich die Tabletten her?", sagt die junge Frau, "das war nun meine einzige große Sorge."

Nebenwirkung: Suchtgefahr

Medikamente helfen. Doch nicht nur. 1250 Tabletten konsumiert der durchschnittliche Deutsche - vom Säugling bis zum Greis - pro Jahr. Und gibt dafür weit mehr Geld aus als für sein täglich Brot. Die Dragees und Kapseln haben auch Nebenwirkungen. Und bei einigen heißen diese: Sucht, Abhängigkeit. Wer solche Mittel wie - die inzwischen geheilte - Franziska Bremer zu lange nimmt oder zu hoch dosiert, den lassen sie nicht mehr los.
Von den circa 50.000 verschiedenen Arzneien auf dem Markt haben etwa fünf Prozent das Potenzial, abhängig zu machen. Vor allem sind es Schlaf- und Beruhigungsmittel sowie Schmerzhemmer. Aber auch eine Reihe anderer Medikamente, etwa Anregungs- und Hustenmittel sowie Appetitzügler, gehören dazu.
Der Drogen- und Suchtbericht des Bundesministeriums für Gesundheit meldet, dass bis zu 1,9 Millionen Deutsche pharmazeutischen Präparaten verfallen sind. Diese Schätzung gilt noch als zurückhaltend - und die Tendenz ist steigend. "Eine alarmierende Zahl", warnt Sabine Bätzing, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung. "Damit erreicht die Medikamentenabhängigkeit in Deutschland ein vergleichbares Ausmaß wie die Alkoholabhängigkeit." Eine versteckte, gesellschaftlich unauffällige Sucht. Es erwischt Hausfrauen und Rentner, Manager und Arbeitslose, Nobodys und Promis: Der eine versucht mit dem Griff in die Pillenschachtel von seinem beruflichen Stress herunterzukommen, der andere kaschiert seine Nervosität. Viele langen zu, um marterndem Kopfschmerz zu entfliehen. Manche wollen mit dem Helfer aus der Packung die psychische Talfahrt nach einem schweren Schicksalsschlag bremsen oder suchen Trost nach Enttäuschung und bei Einsamkeit.

Erst Aufputschmittel, dann Chemie zum Runterkommen

Ängste und Phobien - wenn seelische Not drückt und die Sicherung durchzubrennen droht, wird schnell die pharmazeutische Keule geschwungen. Doch es muss nicht immer die große Bedrängnis sein: Zunehmend vertreibt der Deutsche schon die kleinste Wolke am Seelenhimmel mit der rosa Tablette. Vor allem Ältere konsumieren, um besser schlummern zu können. "Wir haben Hinweise, dass mehr als die Hälfte der über 65-Jährigen hierzulande regelmäßig Schlafmittel schluckt", sagt Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Uni Bremen. Dann gibt es Menschen, die sich ständig mit Aufputschmitteln im Job dopen und hinterher Chemie zum Runterkommen brauchen - ein Teufelskreis. "Wer in Berufen arbeitet, in denen man Höchstleistungen erbringen, auf Kommando wach sein und schlafen muss, der ist besonders gefährdet", sagt Gerhard Bühringer, Professor für Suchtforschung an der Uni Dresden. Offenbar gehört das Showbiz dazu: Popidol Robbie Williams, Filmstar Melanie Griffith und Rocksängerin Courtney Love etwa gestanden, tablettensüchtig zu sein. Auch viele Drogen- und Alkoholabhängige, die ohnehin die Bodenhaftung verloren haben, suchen irgendwann den Medikamenten-Kick oder steigen ganz und gar auf den "festen Alkohol" um. Nicht einmal vor medizinischem Personal, das die Gefahr kennen sollte, machen die legalen, aber fatalen Drogen halt. Schätzungsweise 10.000 Mediziner im Land schlucken Beruhigungspillen und Aufputschmittel oder spritzen sich euphorisierende Schmerzhemmer. Sie fühlen sich überfordert, und das Zeugs ist stets da - im Betäubungsmittelschrank der Klinik.
Die Gefahr, in einen Arzneimittelmissbrauch oder gar eine Sucht hineinzuschlittern, ist einerseits dann groß, wenn die psychische Konstitution des Patienten, seine Sorgen und Ängste, ihn an den Stoff bindet. Ein Absetzen der Substanz wird allein deshalb schon als bedrohlich empfunden. Andererseits kann das in vielen Beruhigungs- und Schlafmitteln enthaltene Benzodiazepin einen fatalen Mechanismus im Gehirn auslösen - den Gewöhnungseffekt. Immer mehr Pillen werden gebraucht, um den gleichen Effekt zu erzielen. Die Maschinerie, die dahintersteckt, ist bis heute nicht geklärt. Wissenschaftler gehen aber davon aus, dass sich sowohl die Bindungsstellen für Benzodiazepine im Gehirn verändern als auch die Aktivität verschiedener anderer Botenstoffe. Die Empfindlichkeit der Nervenzellen für die Wirkstoffe wird herabgesetzt - das System verlangt nach vermehrter Zufuhr. Der Patient wird zum Sklaven der Pille, die vermeintliche Hilfe zur Qual. Konflikte werden zugedeckt und chronisch, Gefühle verkümmern auf ein dumpfes Mittelmaß.
Anders sieht es bei Schmerzmitteln aus. In vielen dieser Mittel sind es nicht die schmerzstillenden Substanzen selbst, sondern die Zusatzstoffe wie Coffein oder Codein, die zu einem Psycho-Kick führen und zum vermehrten Verbrauch verleiten. Riesenberge davon konsumieren die Deutschen vor allem gegen Volkskrankheit Nummer eins: Kopfschmerz. 54 Millionen Menschen leiden darunter. Doch das Schlucken macht meist alles nur noch schlimmer. "Wer an mehr als zehn Tagen im Monat solche Mittel einnimmt, bei dem setzt eine Wirkumkehr ein", sagt Professor Hartmut Göbel, Chefarzt der Schmerzklinik in Kiel, "dann entsteht paradoxerweise überhaupt erst ein Dauerkopfschmerz, den der Geplagte mit noch höheren Tablettendosen bekämpft." So kann es zudem zu schweren Schädigungen oder gar zum Versagen der Nieren kommen.

"Mother's little helper"

Überwiegend sind Frauen betroffen; sie machen zwei Drittel aller Tablettenabhängigen aus. Männer greifen eher zum Doppelkorn. "Mother's little helper" - schon die Rolling Stones haben es besungen: eine kleine gelbe Pille, die eine überforderte Mutter das hektische Leben wuppen lässt. "Die Alltagsrealität von Frauen, ob sie berufstätig sind oder nicht, ist oft geprägt durch Doppel- und Mehrfachbelastung als Partnerinnen, Mütter, Hausfrauen und Berufstätige", sagt Christa Surburg-Liefert von der Berliner Beratungs- und Behandlungsstelle Frauen- Alkohol-Medikamente und Drogen, "zudem haben sie immer noch in der Familie und in der Partnerschaft die fürsorgende Rolle, müssen dort jede Menge Probleme meistern, Mann und Kinder auffangen, bekommen aber umgekehrt nicht diese Unterstützung. So erfüllen sie die Erwartungen meist unter großer innerer Spannung." Unter diesem Druck suchen die Überforderten oft nach medikamentöser Erlösung. Sie schlucken und schweigen.
Selbst in jungen Jahren langen Frauen inzwischen kräftig zu. "Eine irrwitzige Menge von Kopfschmerztabletten wird von 14- bis 16-jährigen Schülerinnen konsumiert. 20 bis 25 Prozent dieser Mädchen nehmen zwei- bis dreimal pro Woche oder sogar täglich Schmerzmittel", berichtet Glaeske, "damit wollen sie nicht nur mögliche Menstruationsbeschwerden wegdrücken." Gelernt haben sie das von ihren Müttern.
Weitere Ursache der hohen weiblichen Quote: Frauen gehen häufiger zum Arzt als Männer. Und genau der ist oft eines der Probleme. Schließlich ist er derjenige, der die Arzneien verschreibt - sofern sie nicht in Apotheken frei verkäuflich sind. Eine ganze Reihe von Medizinern, das zeigen die Statistiken der Krankenkassen, verordnet die Mittel zu schnell und zu unkritisch. Der Arzt als "Dealer in Weiß".

Schnelle Lösung

Zum einen ist es der Erwartungsdruck des Patienten, dem nachgegeben wird. Oftmals nämlich kommt der in großer seelischer Bedrängnis und erwartet eine schnelle medikamentöse Lösung. Versagte ihm der Doktor die, verlöre er einen Kunden. Außerdem stempelt wiederum mancher Mediziner, immer unter Zeitdruck, Klagen von Patienten über Schlaflosigkeit, Ängste und Befindlichkeitsstörungen im Nu zur Krankheit, die dann beispielsweise heißt: "psychovegetative Dystonie". Auf gut Deutsch: gestörtes Allgemeinbefinden. Und er greift, das Suchtrisiko ignorierend, automatisch zum Rezeptblock. "Einen Großteil der Schuld tragen die Allmachtsfantasien dieser Ärzte, die glauben, dass sie auch gesellschaftliche Probleme mit Pillen lösen könnten", wettert Gerd Glaeske. Lieber sollten sie doch, so der Bremer Professor, Hilfesuchende zu einem Beratungsgespräch oder einer Psychotherapie ermutigen, statt Chemie gegen die Psyche einzusetzen.
Viele Süchtige berichten, wie leicht es ist, ein Rezept und immer wieder Nachschub vom Arzt zu bekommen. Oft liegt der Zettel schon an der Rezeption bereit, und sie sehen den Doktor nicht, geschweige denn, dass er sie auf die Suchtgefahr aufmerksam macht. Fast immer beginnt eine Abhängigkeit mit einer Verordnung. Allein 40 Prozent aller Patienten, die ein Rezept für Benzodiazepine bekommen, bleiben daran kleben.
Inzwischen sind viele Ärzte - aus schlechtem Gewissen? - dazu übergegangen, das Problem gegenüber den Krankenkassen zu verschleiern. Als Glaeske und seine Mitarbeiter die Abrechnungsdaten der Kassen mit den Einkaufsstatistiken öffentlicher Apotheken verglichen, fanden sie heraus, dass die Mittel neuerdings immer häufiger auf Privatrezept verordnet werden. So kann sich die Kasse nicht beklagen, und es sieht im jährlich erscheinenden Arzneiverordnungsreport so aus, als löse sich das Problem wie von allein.

Ärztliche Fehler

Absolute Ausnahme ist, dass ein Mediziner für sein verantwortungsloses Verhalten zur Rechenschaft gezogen wird. Immerhin zerrte vor wenigen Jahren ein Manager aus Bremen - nachdem er sich von seiner Sucht befreit hatte - seinen Arzt vor das Schiedsgericht der norddeutschen Ärztekammern. Innerhalb von 17 Jahren hatte der ihm 650 Rezepte ausgestellt, mit denen er 19.000 Tabletten des Schlafmittels Rohypnol verordnete. Der Patient hatte seinen Job, dann den Führerschein und schließlich das Sorgerecht für seine Töchter verloren. Das Gericht bestätigte, dass die Medikamentensucht des Managers eindeutig auf einen ärztlichen Fehler zurückzuführen war, und sprach dem Geschädigten 75.000 Euro Schmerzensgeld zu.
Ein weiterer Akteur beim Pillen-Problem: der Apotheker. Zwar haben sich die 21.500 Apotheken im Lande seriöse Beratung auf die Fahnen geschrieben und rechtfertigen gerade damit ihr Monopol, doch zu häufig schweigen die Tablettenverkäufer, wenn Menschen mit einem problematischen Rezept kommen oder regelmäßig frei verkäufliche Mittel wie die Bestseller Schmerzhemmer verlangen. Der Grund: Intensive Warnung könnte den Interessenten verschrecken, er geht zur Konkurrenz. Immerhin würde eine konzertierte Aktion der Pharmazeuten weiterhelfen. Doch Fehlanzeige. "Von den Apothekern hört man viel zu wenig zu diesem Problem", kritisiert Glaeske, "warum schweigt sich ein ganzer Berufsstand so aus? Sie sollten mehr Verantwortung übernehmen!"
Zudem gibt es schwarze Schafe in der Zunft. "Irgendwann mal hatte ich kein Rezept dabei, aber der Apotheker hat mir das Flumitrazepan trotzdem gegeben", erzählt ein Ex-Tablettenabhängiger, "zum Schluss kam ich mit einer ganzen Wunschliste und ging jedes Mal mit zwei Tüten raus". Wo ein Wille ist, so scheint es, ist für jeden hartgesottenen Pillen-Junkie auch ein Weg: Längst lässt sich via Internet Rezeptpflichtiges ohne Verordnung aus dem Ausland organisieren. Illegal, aber möglich.

Teufelskreis

Wer einmal im Schlamassel steckt, kommt nur schwer wieder heraus. Denn viele Dauerschlucker fühlen sich nicht einmal abhängig, sondern pochen darauf, krank zu sein und somit behandlungsbedürftig - mit Medizin. Andere versuchen immer mal wieder, von dem Zeugs loszukommen, scheitern aber, weil es ihnen dann so mies geht, dass sie fix erneut erlösenden Stoff einwerfen. "Ohne professionelle Hilfe klappt es meist nicht", sagt Rüdiger Holzbach, Psychiater und Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin in den Kliniken Warstein und Lippstadt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe.
Bei leichteren Fällen geht das ambulant, bei hartnäckigen bleibt nur die stationäre Aufnahme. Dabei wird zunächst entgiftet. Das kann tage- oder gar wochenlang dauern, denn oft haben sich im Körper gigantische Depots der über zig Stunden wirksamen Stoffe aufgebaut. Holzbach: "Es ist sehr wichtig, dass der Entzug unter ärztlicher Kontrolle passiert, weil es zu Krampfanfällen kommen kann." Parallel dazu gibt es Gruppen- und Einzeltherapie. Sie ist wichtig, um den Patienten emotional zu stabilisieren, damit das Loskommen erleichtert und ein Rückfall verhindert wird.
Zahlreiche Kliniken bieten solche Programme an, und mehr als tausend Fachberatungsstellen leisten Hilfe für Menschen in Abhängigkeit. Doch die Nachfrage ist gering. Lediglich 2000 Betroffene jährlich machen den Entzug - meist erst nach einer weit über zehnjährigen Suchtkarriere. Das hat zur Folge, dass in der Regel keine eigenen Therapiegruppen für Tablettensüchtige wie in Lippstadt angeboten werden. Meist werden Medikamentenabhängige und Trinker gemeinsam behandelt. Anderenfalls würde es vielen Kostenträgern schlicht zu teuer. Ein Dilemma. Eine Entkoppelung und womöglich noch nach Geschlecht getrennte Gruppen könnten den Weg aus der Sucht deutlich erleichtern.

Erwachen aus der Dumpfheit

"Es ist immer wieder toll zu sehen, wie Patienten nach der Therapie aufblühen", schwärmt Holzbach. Sie erwachen aus ihrer Dumpfheit, bekommen Lebenskraft und Autonomie zurück, pflegen wieder soziale Beziehungen. Oder werden plötzlich höllischste Pein wie durch ein Wunder los. "Viele Schmerzmittelabhängige, die nach langem Leidensweg und falschen Diagnosen und Therapien bei uns auftauchen und einen Entzug machen, sind hinterher befreit von einem Großteil ihrer Qualen", sagt der Kieler Hartmut Göbel, "ein eventuell noch zurückbleibender Restschmerz lässt sich dann mit anderen Mitteln ganz spezifisch behandeln."
Dass jedoch so wenige Tablettenschlucker in den Genuss dieser Erlebnisse kommen, hat noch ganz andere Gründe als nur die Ignoranz der Betroffenen und die oft zu unspezifischen Therapiemöglichkeiten. "Es gibt eine heimliche Allianz aller Beteiligten, die das Problem unterm Deckel hält", sagt Suchtforscher Gerhard Bühringer. Schließlich ist der Arzneimittelmissbrauch ein riesiges Geschäft: Pharmaindustrie, Ärzte und Apotheker machen damit Millionen.
Sogar die Gesundheitspolitik verharrt in Apathie - als sei sie selbst mit gewaltiger Tablettendosis ruhiggestellt. Während sie mit lautstarken Aktionen gegen Alkohol und Nikotin kämpft, fehlen große Pillen- Aufklärungskampagnen. "Politiker haben generell eine Beißhemmung gegenüber dem Ärztestand, ohne dessen tatkräftige Unterstützung in diesem Fall ja nichts geht", sagt Christa Merfert-Diete von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, "denn auch sie müssen mal zum Doktor und wollen es sich deshalb offenbar nicht mit ihm verscherzen."

Pillen sind billiger als Therapien

Zudem fehlt öffentlicher Druck. Medikamentenabhängige machen keinen Ärger wie andere Süchtige, sie fallen meist auf der Straße nicht auf, sind weder verwahrlost noch gewalttätig. Sie riechen nicht mal. Und welch gewaltige Probleme kochten erst auf, wenn man dieses Übel konsequent anpackte! Was beispielsweise wäre, wenn all die Süchtigen sich von den Pillen abwenden und stattdessen zur Psychotherapie wollten? Unmöglich! Schon jetzt wird die Zahl der Therapeuten gesetzlich so knapp gehalten, dass der Bedarf nicht gedeckt ist. Und wie viele teure Arbeitskräfte müssten in Alten- und Pflegeheimen eingestellt werden, wenn Senioren nicht gelegentlich mittels Dämpfung pflegeleicht gemacht würden? Wie schließlich sollte der Staat Arbeitslosigkeit, Leistungsdruck und Einsamkeit lindern, die doch fruchtbarster Nährboden für die Sucht sind?
Es mangelt noch an mehr. "Das ganze Thema ist bislang viel zu wenig erforscht", sagt Suchtexperte Bühringer. Da fehlen etwa Erhebungen über den Arzneimittelmissbrauch bei Kindern und Jugendlichen. Immerhin gaben bei einer Befragung an Schulen in Schleswig-Holstein 20 bis 40 Prozent der Heranwachsenden Kopfschmerzen als hartnäckiges Gesundheitsproblem an. Auch ist aus den derzeitigen Statistiken nicht herauszubekommen, welche 10 bis 15 Prozent der Ärzte es sind, die 50 Prozent der problematischen Mittel verschreiben, um auf diese Gruppe gezielt einwirken zu können. "Nicht einmal die Folgekosten der Abhängigkeit kennen wir", sagt Bühringer, "bei Tabak und Alkohol hingegen sind sie bestens erforscht." Freilich schätzt die Europäische Gesellschaft für Dialyse und Transplantation, dass allein 10 bis 25 Prozent aller Nierenversagen und Dialysen auf das Konto von übermäßigem Schmerzmittelgebrauch gehen. Magenschleimhautentzündungen, Magengeschwüre und Blutarmut sind weitere Auswirkungen.
Wie viele Unfälle passieren zu Hause und im Job im Pillen-Rausch? Und welches Unheil richten die Tablettenschlucker auf der Straße an? Keiner weiß es. "Es fehlt eine Studie, in der beispielsweise ein Jahr lang das Blut aller Verkehrsteilnehmer, die einen Unfall mit Personenschaden verursachen, auf Medikamentenrückstände untersucht wird", sagt Professor Gerold Kauert, Leiter des Instituts für Forensische Toxikologie am Klinikum der Frankfurter Uni. In den Blutproben von verkehrsauffälligen Autofahrern, die in seinem Labor analysiert wurden, hat er in 10 bis zu 13 Prozent Benzodiazepine nachgewiesen.

Zentrale Medikamentenfachstelle

Neben der Verbesserung der Datenlage fordern die Experten Erste-Hilfe-Maßnahmen. So müsse schleunigst eine zentrale Medikamentenfachstelle her, die Betroffenen bundesweit schnelle Hilfe bieten kann. "Außerdem gehört Werbung für freiverkäufliche Schmerzmittel verboten, die dazu verleitet, schon bei kleinsten Befindlichkeitsstörungen zu Tabletten zu greifen", sagt Holzbach. Darüber hinaus müssten schleunigst jene Benzodiazepine vom Markt, die sich nur sehr langsam im Körper abbauen, weil bei regelmäßiger Einnahme ein gigantischer Wirkstoffberg wächst. Und es gilt, Mediziner besser zu schulen. "Die Abhängigkeitsproblematik muss unbedingt in der Ausbildung eine größere Rolle spielen", fordert Holzbach.
Immerhin gibt es inzwischen einen Hoffnungsschimmer. Der Ausschuss "Sucht und Drogen" der Bundesärztekammer hat vor Kurzem einen Leitfaden für Hausärzte herausgebracht. Er gibt ihnen Hinweise zum Umgang mit Arzneimittelabhängigen und enthält eine Liste der Medikamente mit hohem Missbrauchpotenzial. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände will nun mit einer "Handlungsrichtlinie" für ihre Arzneimittelverkäufer nachziehen. Es ist allerhöchste Zeit.


* Name geändert.

Theodor


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