Zufriedene Abstinenz

29.12.2019 09:18
avatar  Stan162
#1
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Zufriedene Abstinenz?
„Zufriedene Abstinenz“, geht das überhaupt, widerspricht sich das nicht von Grund auf, zumindest für uns Süchtige? Das Wort ist mir in den letzten Wochen ein paar mal begegnet, wobei ich mir dann auch selbst die Frage stellte, wie das mir ist, ob und seit wann ich mich zu den Personen rechnen kann, die unter der zufriedenen Abstinenz „leiden“. So hätte ich das früher bestimmt mal gesehen. Einer der zufrieden ist und abstinent lebt, bei dem hätte ich entweder einen mangelnden Erfahrungshorizont festgestellt oder komplett dessen Verstand angezweifelt, wie jemand der einer Gehirnwäsche durch eine Sekte unterzogen wurde. Vielleicht hätte ich es noch gelten lassen, wenn sich dadurch großer finanzieller Reichtum ergäbe. Unzählige Entgiftungen, Clean-Phasen und Rückfälle später, muss ich dazu neue Bewertungen anstellen. Dabei ist es erstmal nur eine „Will nicht“-Sache und keine „Darf nicht“-Sache. Solange ich einen Zwang daraus mache, ich darf nichts mehr konsumieren, heißt das, eigentlich will ich schon was einfahren, das geht aber nicht weil ich dann wieder abstürze. Wenn ich aber im Grunde genommen doch Dope nehmen will, so muss ich ja ständig dagegen ankämpfen. Wo soll da eine Zufriedenheit herkommen. Für mich kam somit nur eine Haltung in Frage, wo ich mich entscheide „ich will nichts mehr nehmen“, weils z.B. im Moment nicht zu meiner Situation passt, oder weil ich eine Therapie mache um mich gesundheitlich und finanziell zu erholen. Das klappte auch meist, heißt aber noch lange nicht, dass diese Abstinenz in irgend einer Weise Zufriedenheit mit sich bringt. Ich konnte das immer eine Zeit lang gut machen, aber irgendwann kam ein Zeitpunkt, an dem ich mich erneut entscheiden muss, will ich weiter abstinent leben, oder versuch ich erneut kontrolliert zu konsumieren, unterbewusst genau wissend wo das hinführt. Ich kann jetzt im Rückblick sagen, diese erneute Entscheidung für Abstinenz wurde dann immer leichter, wenn ich anfing Lebensfreude zu empfinden. Dazu musste ich meine Einstellung in vielen Bereichen von Grund auf ändern, mich mit mir aussöhnen, die Schuldfrage nicht mehr stellen. Das, ohne Therapeut bzw. ohne eine erneute Therapie zu machen, gelang mir, weil ich seit zwölf Jahren regelmäßig jede Woche eine Selbsthilfegruppe aufsuche. Inzwischen kann ich von mir behaupten, dass ich wieder ein selbstbestimmtes Zufriedenes Leben habe, in dem Heroin und Benzos kein Platz mehr haben. Stefan


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29.12.2019 16:39
avatar  Theodor
#2
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MoinMoin hallo Stefan,
ich habe früher auch oft gekämpft mit den Worten, vor allem in den ersten Jahren meiner Trockenheit.
Erst mit den Jahren wurde mir klar, dass ich eine habe, eine zufriedene Abstinenz!
Eine zufriedene Abstinenz bedeutet mir, dass ich frei bin in meinen Entscheidungen, die nicht mehr durch die Sucht gelenkt werden. Frei in meinem Denken und Handeln. Das ist ein verdammt hohes Gut, wie ich finde.
Aber es gehört noch mehr dazu, zum Beispiel das ich mir vergeben habe, ich habe mir vergeben ein Alkoholiker zu sein. Denn ich erinnere mich sehr gut das ich es nie war haben wollte und immer damit gehadert hatte. Auch habe ich allen, die mit mir zu tun hatten vergeben, was gar nicht so einfach war, aber auch das macht frei!!!
Das schönste, wie ich finde, ist aber dass ich keine Angst mehr zu haben brauche. Keine Angst mich daneben zu benehmen, zu torkeln, zu lallen usw. ach so, ich habe auch keine Angst mehr, wenn Polizisten in der nähe sind, das war lange ein Problem bei mir. „Wer will mir was, wer kann mir was, denn ich bin ein ganz normaler nüchterner Mensch.“
Ich sitze auch jede Woche in meiner Gruppe und nichts kann mich davon abhalten. Denn es ist mir wichtig das ich über all das auch reden kann, es nichts gibt es worüber ich dort nicht reden kann, das macht auch zufrieden.
Kurz um, ich bin ein zufriedener Mensch und das musste ich nicht erkämpfen oder erarbeiten, sondern es kam ganz allein mit den Jahren meiner Trockenheit.

Theodor


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30.12.2019 09:22
avatar  Stan162
#3
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Guten Morgen Theo, ich kenne nicht viele zufriedene Abstinente Leute, aber du bist inzwischen einer von ihnen. Es gibt unter den Süchtigen solche wie du und ich, die zum großen Teil die Anlagen für ein zufriedenes Leben schon vor der Abstinenz erworben haben, sich reflektieren können. Wir leben in einer Partnerschaft, haben Hobbys, können uns vielseitig begeistern und mussten quasi "nur" noch die Abstinenz erreichen und aufhören uns selbst zu bescheißen. Das war schon eine Aufgabe, an der ich auch hätte scheitern können. Einige glückliche Fügungen haben mich das erreichen lassen. Ich stelle mir aber jetzt jemand vor, dessen Leben ein Scherbenhaufen ist, der kein Partner hat, keine Hobbys und keine Aussichten auf eine Arbeitsstelle. Für ganz viele Cleane und Trockene ist das die Realität. Sie müssen ihr komplettes Leben hinterfragen und neue Wege gehen lernen. Das kann bis zur zufriedenen Abstinenz ein sehr sehr langer Weg werden....
...Das mit der Angst ist mir dann auch aufgegangen, stimmt genau. Keine Angst mehr vor der Polizei! Erst mal ist da zwar immer noch so ein Flash wenn die Polizei auftaucht oder mir hinterher fährt, aber dann denk ich ha, die können mich mal, hab nix zu verbergen. Aber auch die Angst vor morgen, wenn das Dope alle wird und ich kein Geld hatte, oder wenn Behördenpost im Briefkasten lag, oder wenn es zur Entgiftung ging, es gab 1000 Gründe ständig in Angst zu leben,
Stefan


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